Dienstag, 4. Oktober 2011

„Du hast mich gesehen, bevor ich dich gesehen habe“

Rezension: Lucy Christopher - Ich wünschte, ich könnte dich hassen

Entführungsopfer, die eine starke emotionale Bindung zu ihrem Entführer aufbauen – das Stockholm Syndrom ist ein spannendes Phänomen, das in der Öffentlichkeit immer wieder große Verwunderung hervorruft. Lucy Christopher hat sich in ihrem Jugendbuch „Ich wünschte, ich könnte dich hassen“ dieser Thematik angenommen und schafft es auf sehr eindrucksvolle Weise, eine Gefühlswandlung darzustellen, die von anfänglichem Hass zu etwas wird, das beinahe als Liebe durchgehen kann.
Im Original trägt das Buch den Untertitel „A letter to my captor“ – und genau das ist es. Die Hauptperson Gemma erzählt ihre Erlebnisse nach, indem sie ihrem Entführer einen Brief schreibt. Anfänglich mag diese Art des Schreibstils ungewöhnlich erscheinen, v.a. da sie ihren Entführer, einen jungen Mann namens Ty immer wieder mit „du“ anspricht, doch hat man sich einmal daran gewöhnt, fällt es einem umso leichter, sich in die Geschichte zu vertiefen. Man kann ihre Angst spüren, ihren Hass. Ihre verzweifelten Versuche, aus ihrem Gefängnis zu fliehen. Sie wurde auf dem Flughafen in Bangkok entführt und in die Wüste Australiens verschleppt, in eine Gegend, die verlassener nicht sein könnte. Hierbei merkt man die Vertrautheit der Autorin dem Land gegenüber. Die in Wales geborenen Lucy Christopher wuchs selbst in Australien auf und arbeitete neben dem Studium als Wanderführerin – die perfekten Voraussetzungen für detaillierte Beschreibungen der Wüste, in der Gemma gefangen ist und die sie langsam zu entdecken und dabei zu hassen beginnt. Die Beschreibungen der Wüste und all ihrer Farben, der wenigen Pflanzen und Tiere lässt merken, dass sich die Autorin mit dem Land befasst hat und Recherche betrieb, um dem Leser zu ermöglichen, beim Lesen ein klares Bild vor Augen zu haben.
Eingesperrt in einer Hütte im Nirgendwo. Flucht würde unweigerlich zum Tod führen und doch versucht sie es anfangs immer wieder. Bis sie sich darauf einlässt, ihren Entführer Ty näher kennenzulernen. Mehr zu sehen, als den Entführer. Und plötzlich beginnt sie sich zu fragen, ob er nicht Recht hatte, sie aus ihrem Alltag zu reißen. Weg von ihren gleichgültigen Eltern, ihren oberflächlichen Freunden. Heraus aus einem Leben, das sie unglücklich machte. Und langsam wird ihr auch klar, warum Ty ihr so bekannt vorkommt: Sie kennt ihn. Schon lange.
Ich wünschte, ich könnte dich hassen“ ist Lucy Christophers Debütroman, eine Tatsache, die man beim Lesen keineswegs spürt. Durch Thematik und die Wahl der besonderen Erzählperspektive lässt er sich schwer einordnen, was die Tendenzen und Trends im Bereich der Jugendliteratur angeht. Obwohl gerade für die Zielgruppe ab 14 Jahren gerne so genannte „Problembücher“ geschrieben werden, die sich mit den alltäglichen Problemen Heranwachsender befassen, so sticht dieses Buch dennoch heraus. Die Geschichte einer Entführung, das Thematisieren des so genannten Stockholm Syndroms, die zarten Ansätze einer Liebesgeschichte – dies alles wird vor der eindrucksvollen Kulisse der Australischen Wüste in diesem Buch kombiniert. Durch die Wahl der ungewöhnlichen Erzählperspektive wird diese Einzigartigkeit verstärkt. Lucy Christopher wählt nicht nur die sehr beliebte Form des Ich-Erzählers, sondern lässt Gemma selbst zu Wort kommen, indem sie sie einen Brief an ihren Entführer schreiben lässt. Eine ebenso einfache, wie wirksame Methode, um wahre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Hass und Liebe liegen hierbei nah beieinander. Und doch bleibt es am Ende dem Leser selbst überlassen, zu deuten, welche Gefühle in Gemma die Oberhand gewonnen haben.

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