Freitag, 19. Oktober 2012
[Just my 2 cents] Sollte man sich für seine Lektüre schämen?
Letztens las ich etwas sehr Interessantes in der Zeitung: Der neueste Grund, wieso man sich einen Ebook-Reader zulegen sollte. Und gleichzeitig der absurdeste.
Die These: Wenn man einen Ebook-Reader hat, kann man in Ruhe "Shades Of Grey" lesen.
Das musste ich erst einmal verdauen. Man kauft sich das Ding also nicht, weil man nicht immer (verständlicherweise) so viele Bücher mit sich herumschleppen will, sondern weil man sich wegen seiner Lektüre schämt? Hallo? HALLO?
Aber dann fiel mir etwas ein, das diese These leider unterstützt. Letztens saß ich einem Mädel in der Tram gegenüber. Sie las ein Buch, das in lindgrünes Tonpapier eingeschlagen war. Und das machte mich natürlich neugierig. Zuerst dachte ich, sie wollte das Buch schützen. Bei genauem Blick stellte ich aber fest: Sie wollte wohl eher sich selbst schützen. Denn natürlich las sie Shades. Aber mal im Ernst: Hätte sie es ganz normal gelesen, wäre das keinen zweiten Blick wert gewesen. So aber wurde ich neugierig und wollte wissen, was sie da las. Und sicherlich nicht nur ich. Durch das Versteckspiel hat sie noch viel mehr darauf aufmerksam gemacht, dass sie etwas liest, dessen sie sich offenbar schämt.
Aber mal ehrlich: Das Buch ist ein Bestseller und jeder liest es. Wieso genau versteckt man es dann? Jeder, der einen damit in der Tram sieht weiß, was es ist. Und keiner schaut einen schief an oder verurteilt einen, denn genau dieses Buch hat doch "derartige" Literatur salonfähig gemacht oder täusche ich mich da?
Aber was mich durch diese ganze Shades-Affäre ja noch viel mehr beschäftigt hat: Sollte man sich für seine Lektüre schämen? Gibt es "peinliche" Bücher? Bücher, die man in einer braunen Papiertüte kaufen und nur im stillen Kämmerlein lesen sollte? Oder eben in gedämpften Farben eingeschlagen, wenn man sich einmal damit vor die Tür wagt?
Ich sage: Nein!
Und ich sage auch: Wenn man sich für ein Buch schämt, dann sollte man es nicht lesen!
Es ist ja ein seltsames Phänomen. Wie mit Modern Talking. Keiner mag sie, aber sie haben durch ihre Musik ihre Millionen gemacht. Wer hat also die CDs gekauft? Der heilige Geist?
E.L. James hat ausgesorgt, aber die Leute schämen sich, weil sie ihre Bücher lesen?
Wie oft kam jemand in die Buchhandlung und hat beinahe flüsternd nach "Shades of Grey" gefragt. Oder das Buch verkehrt herum an die Kasse gelegt, damit man das Titelbild nicht sieht. Bei der Frage nach einer Tüte fast schon entrüstet "Aber natürlich" geantwortet. Fast hätte ich dann entgegnet "Braune Papiertüten sind leider aus, ich hoffe, eine normale tut es auch?"
Wie kommt das denn, dass man sich plötzlich schämt, weil man etwas liest, das als "pornografisch" deklariert wird? Wenn es doch eh jeder liest? Ich wage ja zu behaupten, dass einen in der Tram oder Sbahn keiner komisch anschauen wird deswegen. Und warum? Weil vermutlich jeder selbst mit der Nase im exakt selben Buch steckt, deswegen! Da denkt man sich höchstens "Ach, eine Gleichgesinnte", aber das war's dann auch! Denn wer einen verurteilt, weil man "so etwas" liest, der hat's vermutlich nicht gelesen. Oder sich von den Medien aufwiegeln lassen. Oder ist allgemein der Auffassung, dass man manche Dinge totschweigen sollte und nur die Bibel lesen.
Das ist jetzt bewusst etwas provokativ, aber mich regt sowas leider echt auf! Dass man sich für ein Buch schämt - wo kommen wir denn da hin?! Am liebsten würde ich mich ja demonstrativ mit so einem verruchten Ding irgendwo hinsetzen und es mir in Augenhöhe vor das Gesicht halten! Und würde es jemanden interessieren? Wohl kaum! Würde mich jemand verurteilen? Na das will ich sehen! Oder mit demjenigen dann mal darüber sprechen, dass ich lesen kann, was ich will. Vielen Dank auch. Ich darf auch Kinderbücher lesen, wenn ich das gerne möchte. Oder das Kamasutra, wenn es mich interessiert. Was ich lese ist genauso meine Sache wie die Musik, die ich höre und die Filme oder Serien, die ich schaue. Wenn ich Justin Bieber hören will, dann tue ich das. Und wenn ich Verbotene Liebe schauen will, dann mache ich das auch!
Einen Versuch wäre es ja wert, einmal drei Varianten zu testen: Das Buch in seiner Normalform, eingeschlagen in Papier und auf dem Reader.
Denn wenn ich mit roten Ohren oder leicht verschämtem Grinsen in ein verhülltes Buch oder den Kindle schaue, dann denkt sich mein Gegenüber natürlich nicht seinen Teil. Nein.
Und schon zerbröselt das ganze Versteckspiel und man hat sich umsonst bemüht. So ein Pech aber auch! Da kauft man sich aus Schamgefühl ein teures Gerät und trotzdem weiß jeder, was man da liest. Blöd.
Irgendwie erinnert das an das Klischee vom kleinen Schuljungen, der den Playboy in seinem Mathebuch versteckt hat. Oder an den Ehemann mit seiner sicher hochinteressanten Biographie, die er auch nur zum Schein liest. Aber eigentlich sollte man meinen, dass diese Zeiten inzwischen vorbei sind. Weit gefehlt, tragischerweise.
Obacht also, sollte einem künftig jemand mit Kindle begegnen. Mal auf den Gesichtsausdruck und die -farbe achten. Alles normal? Dann hat derjenige das Ding wohl wirklich nur aus praktischen Gründen.
Aber mal was anderes: Sind die Verkaufszahlen von pastelligem Tonpapier proportional zu denen von Shades angestiegen? Wundern würde es mich nicht...
P.S.: Ich lese jetzt ohne mich zu schämen 80 Days Yellow. Weil ich es gar nicht einsehe, auch nur zu diskutieren, wieso ich zum Spaß und zur Unterhaltung "sowas" lese. Achja und weil eh noch gar keiner weiß, dass in Deutschland die Reihe schon in den Startlöchern steht für all die, die nach dem 24.10. (Wenn Band drei von Shades auf den Markt kommt) nicht wissen, wofür sie sich als nächstes verstecken sollen.
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