J.K. Rowling - The Casual Vacancy
Ich gehöre zur Generation Harry Potter.
So nenne ich uns Mittzwanziger, die mit den Büchern groß bzw. erwachsen geworden sind.
Als ich anfing, Harry Potter zu lesen, war ich so alt wie Harry zu Beginn seiner Abenteuer und die ersten drei Bände waren schon erschienen. Als ich den siebten Band zu ende gelesen hatte, war ich 19.
Ab dem vierten Band gehörte ich zu denen, die sehnsüchtig auf den nächsten warten mussten. Manchmal beneide ich die heutigen Leser, dass sie einfach alle sieben Hogwarts-Jahre (oder eben sechs und eins außerhalb Hogwarts') am Stück lesen können. Aber dann fehlt ihnen doch irgendwie der Nervenkitzel und die Spannung. Das frühe Aufstehen am Erscheinungstag, das Herzklopfen, wenn man den neuen Band in Händen hielt.
Harry Potter hat mich, die ich eh schon immer viel gelesen habe, das erste Mal zu einem Fan werden lassen. Ich trat Fanclubs bei und schrieb mehrere hundert Seiten an Fanfictions. Ich sah alle Filme, wollte mir einen Schal stricken, kaufte Merchandise.
Die Bücher haben also ihre Spuren hinterlassen. Und als das letzte ausgelesen war, fehlte irgendwie etwas. Das Warten auf das nächste Abenteuer. Die Gewissheit, dass es weitergeht.
Dass Joanne K. Rowling wieder etwas schreiben würde, hielt ich schon für möglich. Nur nicht, dass es so schnell gehen würde. Denn plötzlich war der 27.September 2012 da und somit "The Casual Vacancy", zu deutsch "Ein plötzlicher Todesfall". Inzwischen bin ich vom bloßen Leser zum "Profi" geworden und arbeite im Buchhandel. Ich bekomme also alles hautnah und "hinter den Kulissen" mit.
Nicht jeder ist so ein Mensch wie ich. Ich muss Bücher, die mich besonders interessieren am Erstverkaufstag haben. Ich muss britische Serien im Livestream sehen, bevor überhaupt jemand daran denkt, sie in Deutschland auszustrahlen. Ich muss CDs meiner Lieblingdbands haben, sobald sie irgendwo verfügbar sind. Deshalb war ich wohl auch der einzige Mensch bei uns in der Buchhandlung, der dem neuen Rowling-Werk entgegenfieberte.
"Haben Sie schon das superverschweißte Buch gelesen?"
Nun bin ich aber kein normaler Leser mehr, der einfach am Erstverkaufstag in die Buchhandlung marschiert. Ich bin die Buchhandlung. Oder arbeite eben in einer. Und da erlebt man das alles schon ein wenig anders.
Als erstes kam es zu einer großen Verwunderung, als der deutsche Verlag bekannt gegeben wurde. Obwohl es eigentlich logisch war, da alle bisherigen Bücher von JKR auch bei Carlsen erschienen. Nur: Hierbei handelt es sich um einen Kinder- und Jugendbuchverlag. Das hier ist aber eindeutig ein Erwachsenenbuch. Aber etwas von einer Stammautorin deshalb nicht zu veröffentlichen, wurde wohl gleich ausgeschlossen. Man erhielt übrigens auch gleich den Hinweis, dass das Taschenbuch beizeiten bei Ulstern erscheinen werde. Na immerhin.
Die Harry Potter Bücher haben sich irgendwann zu einem Hype entwickelt. Ob nun selbst oder forciert, sei dahingestellt. Was mir nur diesmal auffiel: Irgendwie schien man es auch beim ersten Erwachsenenbuch der Potter-Autorin darauf anzulegen. Ein strenger Erstverkaufstag, ja sogar eine genaue Uhrzeit wurde uns vorgeschrieben. Weltweit gleichzeitig. Und nicht nur das: Vor diesem Zeitpunkt durfte der Karton mit den Büchern nicht einmal geöffnet werden. Hätte es sich um den achten Potter gehandelt, hätte ich es vermutlich noch verstanden. Aber hier schien es mir schlicht übertrieben und stieß mir ein wenig sauer auf. Klar kann ich den Verlag und auch die Autorin verstehen, denn gerade auf dem Buchmarkt geht es manchmal wirklich nicht zimperlich zu. Aber als rechtschaffener Mensch kam man sich schon sehr gemaßregelt vor. Die Stimmung bei uns wird hier sehr gut dargestellt und zeigt, dass der Buchhandel allgemein nicht so begeistert war.
Auch schien mir vor diesem besagten Donnerstag im September keiner wirklich zu wissen, was da erschien. Zumindest gab es wenige Kunden, die von sich aus kamen und nach dem Buch verlangten. Erst am zweiten Tag, nachdem die ersten Besprechungen erschienen waren, kamen die Käufer. Und auch die Werbung, die auf verschiedenen Fernsehsendern geschalten wurde. Und natürlich waren die Leute interessiert, denn Harry Potter kennt man und jeder fragte sich, ob die Autorin auch im Erwachsenenbereich Fuß fassen können wird.
"Harry, ich fürchte, wir sind nicht mehr in Hogwarts"
Viele Autoren schreiben Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbücher gleichermaßen. Wenn man aber jemanden nur als Jugendbuchautoren kennt, dann ist man besonders gespannt auf das, was da im Erwachsenenbereich kommt.
Dass wir nicht mehr in Hogwarts sind, wir nicht nur durch die Abwesenheit sämtlicher Magie deutlich. Wir sind immer noch in England. Aber wir sind in dem England, das normal ist. Das aber keiner sehen soll. Wir sind auf dem Land, in einem kleinen Ort und blicken hinter die Kulissen. Hinter die perfekten Fassaden verschiedener Familien, sehen die Dramen, die sich abspielen.
Pagford ist ein winziger Ort. Jeder kennt jeden, es ist ein Mikrokosmos. Man kann einander gar nicht aus dem Weg gehen, selbst wenn man das will.
Die Geschichte wirft den Leser mitten hinein, als alles aus den Fugen gerät. Und das aufgrund des Todes eines Mannes: Barry Fairbrother stirbt plötzlich. Und er hinterlässt Lücken. In seiner Familie, aber auch im Ort. Denn er war Mitglied im Gemeinderat. Und sein Platz ist jetzt frei, muss neu besetzt werden. Wie sich herausstellt fühlen sich einige Bürger dazu berufen - aus den unterschiedlichsten Gründen.
Das Grundgerüst dieser Geschichte ist nicht das, was sie meiner Meinung nach so sehr von den früheren Werken Rowlings abhebt. Es ist die Sprache. "Drastisch" würde es wohl ganz gut beschreiben. Sie nimmt keinerlei Blätter irgendeiner Art vor den Mund. Es scheint fast, als hätte sie sich bei ihren Jugendbüchern gezügelt und würde sich jetzt austoben. Es wird geflucht und beleidigt was das Zeug hält, in fieseste Dialekt gesprochen - all das, was eben eine "echte" Geschichte ausmacht. Es wird nichts beschönigt, nichts verbessert und schon gar nicht glattgebügelt.
"The Casual Vacancy" zeigt Missstände auf. Aber auch Abgründe und vor allem Gegensätze. Alt und jung, reich und arm - selbst im kleinsten Ort gibt es verschiedene Gruppen, die sich im Konflikt befinden. Bisher noch unterschwellig, doch durch den Tod Barry Fairbrothers kommt langsam alles an die Oberfläche - und nichts davon ist wirklich schön oder sollte von irgendjemandem gesehen werden.
Das klingt alles nach einer einfach gestrickten Geschichte. Wäre sie wohl auch, wenn wir es hier nicht mit Joanne K Rowling zu tun hätten. Einfach gibt es bei ihr nicht. Komplexität ist ihr Motto bei all ihren Büchern und so ist auch hier jedes noch so kleine Detail wichtig und wird später eine große Bedeutung haben.
Komplexität heißt aber auch, dass das Netz und Gewirr der handelnden Personen für einen Außenstehenden, und somit den Leser, beinahe undurchsichtig wirkt. Jeder steht in einer besonderen Beziehung zu einer anderen Person, hat eine Vergangenheit mit ihm oder ihr und die verschiedensten Arten von Gefühlen. Anfangs scheint es da schwer, den Faden nicht zu verlieren. Doch nach den ersten 200 Seiten hat man die Charaktere so verinnerlicht, dass man langsam ein Gefühl dafür bekommt, was in Pagford wirklich vor sich geht.
Dass man ein Gefühl für die verschiedenen Personen hat, heißt aber noch lange nicht, dass man sie auch ins Herz schließt. Zumindest nicht sofort und auf keinen Fall jeden von ihnen. Um wieder mit dem Paradebeispiel Harry Potter zu kommen: In wie viele der Charaktere hat mich sich schon bei ihrem ersten Auftritt verliebt? In Harry selbst, in einen der Weasleys, Hermione, Hagrid - es sind liebenswerte Charaktere, die einen durch die sieben Bände begleitet haben.
Müsste ich mir in "The Casual Vacancy" einen Liebling aussuchen, ich täte mir schwer. Vielleicht wäre es Tessa, die immer versucht es allen Recht zu machen und dabei doch irgendwie scheitert. Oder Krystal, die alles dafür tut, damit ihr kleiner Bruder bei ihr bleiben darf und sich liebevoll um ihn kümmert. Vielleicht auch Sukhwinder, die einem einfach nur leid tun kann, weil sie das schwarze Schaf in der Familie ist und noch dazu von ihrem Mitschüler Fats gemoppt wird.
Keiner der männlichen Charaktere stösst bei mir auf Sympathie. Der einzig nette Mann dieser Geschichte scheint am Anfang zu sterben. Der Rest von ihnen handelt in der Regel so, dass man sofort eine Abneigung verspürt, die einen nicht mehr loslässt. Und auch, wenn man irgendwann hinter ihre Fassade blicken kann und sieht, dass auch sie nur Menschen sind: Der erste Eindruck zählt auch hier und der ist bei allen schlecht. Der tyrannische Vater und sein verkorkster Sohn, der Mann, der seine neue Freundin eigentlich schon wieder loswerden will, der machthungrige Feinkosthändler, der seinen Sohn schon im Gemeinderat sieht - sie alle benehmen sich so, wie ich es sicher nicht von englischen Gentlemen erwarte.
Man könnte nun glauben, dass der Tag, an dem die Wahl für den leeren Sitz von Barry Fairbrother stattfindet, der Showdown ist. Aber dann wäre das wohl keine Rowling-Geschichte. Der Ausgang dieser Wahl, auf die alle hingefiebert hatten, wird fast nur nebenbei erwähnt. Denn inzwischen haben alle irgendwie andere Probleme, kämpfen mit ganz anderen Dämonen und die Wahl ist in den Hintergrund gerückt. Sie war zwar vielleicht Auslöser und Katalysator, aber am Ende misst keiner mehr dem Ergebnis große Bedeutung bei.
Wie es das Ende eines Buches von Joanne K. Rowling verlangt, war ich auch hier wieder ergriffen. Eineinhalb Wochen habe ich mit dem Buch verbracht. Länger, als mit allen anderen von ihr. Aber das liegt nicht daran, dass es schlecht wäre oder mich gelangweilt hätte. Es ist schlicht kein Buch der Sorte, das man einfach so wegliest. Wenn man längere Zeit mit den Charakteren verbringt, werden sie einem so so etwas wie guten, alten Bekannten. Ihr Schicksal geht einen etwas an, man interessiert sich dafür. Und ja, man hat auch Mitleid, freut sich mit ihnen oder weint und trauert.
Und das macht die große Erzählerin ja aus. Nicht, dass sie Charaktere erschafft, die man auf den ersten Blick gleich (oder überhaupt jemals) liebt und ins Herz schließt. Sondern, dass man an ihrem Schicksal teilhaben kann und will - egal, was man von ihnen hält. Dass man aber auch ihre Motive und ihre Handlungen nachvollziehen kann.
Sollte ich ein Fazit geben, dann das: Wäre "The Causal Vacancy" nicht von einer meiner Lieblingsautorinnen geschrieben worden, hätte ich es vermutlich nicht gelesen, es hätte mich schlicht nicht interessiert. So aber wusste ich, dass sie auch aus einer Art Geschichte, die mich nicht auf den ersten Blick interessiert, etwas machen kann, das mich nachhaltig beeindruckt. Weil sie es kann. Ob die Allgemeinheit das auch so sehen wird, wird sich noch zeigen. Dass an die Erfolge von Harry Potter angeknüpft werden kann, traut sich keiner zu vermuten. Aber das muss auch nicht sein. Denn so wie ich das sehe, hatte Ms. Rowling Spaß am Schreiben, konnte sich austoben und zeigen, dass es nach einem Monumentalwerk wie Harry Potter nicht vorbei sein muss. Ihre Kreativität ist noch lange nicht erschöpft - aber das hätte mich auch sehr gewundert!
Ich habe noch keine einzige Rezension zu diesem Buch gelesen. Wie ich hörte, sind auch nicht alle durchwegs positiv. Aber das wundert mich auch nicht. Es ist kein Werk, dass das Zeug zum Publikumsliebling hat. Aber das muss es auch nicht. Der Hype vorher wird ihm nicht gerecht, aber vielleicht lernt man dann auch mal dazu und lässt diese Übertreibung beim nächsten Mal einfach sein.
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